In dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15.06.2021, Az. 9 CS 21.817, hat dieser die aufschiebende Wirkung einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung angeordnet, mit welcher Befreiungen von den Festsetzungen im Bebauungsplan zum Maß der baulichen Nutzung erteilt wurden.

Nach der ständigen Rechtsprechung hängt der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn im Falle der Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB davon ab, ob von sogenannten nachbarschützenden Festsetzungen, also von Festsetzungen, die zumindest auch den Zweck haben, die Rechte des Nachbarn zu schützen, befreit wurde (u.a. BayVGH, Beschluss vom 24.07.2020, Az. 15 CS 20.1332). Wird eine Befreiung von nachbarschützenden Festsetzungen erteilt, ist eine Nachbarklage schon dann erfolgreich, wenn auch nur eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Betrifft die Befreiung hingegen lediglich Festsetzungen, die nur städtebaulichen Interessen dienen, kann sich der Nachbar nur auf eine Verletzung des nachbarlichen Rücksichtnahmegebotes berufen, welches in dem Tatbestandsmerkmal in § 31 Abs. 2 BauGB „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthalten ist (BVerwG, Beschluss vom 08.07.1998, Az. 4 B 64/98).

Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung generell drittschützend sind, werden Regelungen zum Maß der baulichen Nutzung im Regelfall ausschließlich aus städtebaulichen Gründen im Bebauungsplan festgesetzt. Den nachbarlichen Interessen soll hiermit grundsätzlich nicht gedient werden. Nach der ständigen Rechtsprechung gilt hiervon aber eine Ausnahme, wenn sich aus dem Bebauungsplan selbst, dessen Begründung oder sonstigen Unterlagen aus dem Planaufstellungsverfahren ergibt, dass der Plangeber im konkreten Fall die Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung zumindest auch zum Schutz nachbarlicher Interessen getroffen hat. Maßgeblich ist insoweit der Wille des Planungsträgers (BVerwG, Urteil vom 16.09.1993, Az. 4 C 28/91).

Zumeist findet sich in der Begründung des Bebauungsplans und in sonstigen der Planung zugrunde liegenden Unterlagen keinerlei Anhaltspunkt für eine solche Willensbildung des Planungsträgers. Oftmals existiert in den Aufstellungsunterlagen überhaupt keine nähere Begründung dazu, warum eine bestimmte Gebäudehöhe oder eine bestimmte Anzahl von Vollgeschossen gewählt wurde. Deswegen gelingt der Nachweis im Rahmen von Nachbarklagen in den weit überwiegenden Fällen nicht, dass der Plangeber mit den Festsetzungen zumindest auch den Schutz der umliegenden Nachbarn bezweckt habe.

Tatsächlich suchte man bisher vergebens (zumindest hat die Verfasserin vergebens gesucht) nach einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, in welcher das Gericht zu dem Ergebnis kam, es liege eine nachbarschützende Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung vor. Mit dem Beschluss vom 15. Juni 2021 hat nun aber der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine solche Konstellation angenommen.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Planungsträger hatte für das Vorhabengrundstück zunächst in einem Bebauungsplan die Bebauung mit einem Kindergarten und mehreren Wohnhäusern vorgesehen. Keines dieser Bauvorhaben wurde verwirklicht. Einige Jahre später entschloss sich der Plangeber, den Bebauungsplan zu ändern, da ein Bedarf für einen Kindergarten nicht mehr bestand. Im nördlichen Teil sollte das vorhandene Biotop geschützt werden, so dass nur noch der südliche Teil des Grundstücks für eine Bebauung mit Wohnhäusern vorgesehen sein sollte. Da der Grundstückseigentümer hierdurch erheblich in seinen Interessen beschränkt wurde, sollte im südlichen – bebaubaren – Teil des Grundstücks eine möglichst intensive Bebauung vorgesehen werden. Dementsprechend ergibt sich aus der Begründung, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (Gebäudehöhe, Anzahl der Geschossflächen, Baugrenzen) so gewählt wurden, dass dies zum einen gerade noch städtebaulich vertretbar und gerade noch mit nachbarlichen Belangen vereinbar ist. Eine entsprechende Abwägungsentscheidung wurde in der Begründung zu dem geänderten Bebauungsplan festgehalten. Mehr als 30 Jahre später hat der Planungsträger, der selbst auch Bauaufsichtsbehörde in diesem Fall war, eine Baugenehmigung für ein Bauvorhaben auf diesem Grundstück erteilt, welche in mehrfacher Hinsicht von den Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung abweicht. Ein unmittelbarer Grundstücksnachbar hat gegen diese Baugenehmigung Klage erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht. Nachdem das Verwaltungsgericht in dem Eilverfahren den Antrag abgelehnt hatte, war die hiergegen gerichtete Beschwerde des Nachbarn beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erfolgreich.

Nach der Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs lässt sich aus der Begründung zum Bebauungsplan hinreichend deutlich entnehmen, dass das Ziel der Bebauungsplanänderung hinsichtlich der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nicht allein städtebaulichen oder sonstigen öffentlichen Belangen diene, sondern gerade auch darauf gerichtet sei, bei Ausschöpfung der größtmöglichen Bebaubarkeit, die sich hieraus ergebende Zumutbarkeitsgrenze für die Nachbarschaft festzulegen. Hierdurch sei ein nachbarliches Austauschverhältnis begründet worden, da der nachbarliche Interessenkonflikt in dem Bebauungsplan durch Merkmale der Zuordnung und der Verträglichkeit geregelt und ausgeglichen worden sei (BayVGH, Beschluss vom 15.06.2021, Az. 9 CS 21.817).

Würzburg, 14.10.2021
gez. RAin Anja Schilling/Fachanwältin für Verwaltungsrecht