Baden-Württemberg geht neue Wege: Mit dem Kommunalen Regelungsbefreiungsgesetz (KommRegBefrG) eröffnet die Landesregierung den Kommunen die Möglichkeit, unter klaren rechtlichen Bedingungen befristet von landesrechtlichen Vorschriften abzuweichen. Ziel des Gesetzes ist es, bürokratische Hürden abzubauen, die Eigenverantwortung der Gemeinden und Landkreise zu stärken und praxisgerechtere Formen der Aufgabenerfüllung zu erproben. Das am 8. Oktober 2025 vom Landtag Baden-Württemberg beschlossene Gesetz versteht sich als Experimentierrahmen für moderne Verwaltungsarbeit – ein juristisches „Labor“ für kommunale Innovation.

  1. Zielsetzung und rechtlicher Rahmen

Nach § 1 KommRegBefrG sollen Gemeinden, Landkreise und Zweckverbände auf Antrag die Befugnis erhalten, für eine begrenzte Zeit von bestimmten landesrechtlichen Vorschriften abzuweichen. Diese „Regelungsbefreiung“ darf nur erfolgen, wenn die Kommune nachweist, dass das Ziel der jeweiligen Norm auch auf einem anderen Weg ebenso gut erreicht wird (§ 2 Abs. 1 Satz 1 KommRegBefrG). Sie dient ausdrücklich der Erprobung neuer Formen der Aufgabenerfüllung und durch die Befristung bis 31. Dezember 2030 nicht der dauerhaften Aufhebung gesetzlicher Pflichten (§ 6 KommRegBefrG).

Der Geltungsbereich beschränkt sich nach § 2 KommRegBefrG auf landesrechtliche Vorschriften, die die kommunale Aufgabenerfüllung betreffen. Eine Befreiung von bundes- oder europarechtlichen Bestimmungen ist ausgeschlossen (§ 2 Abs. 1 Satz 2 KommRegBefrG). Ebenso wenig dürfen Rechte Dritter beeinträchtigt werden (§ 2 Abs. 1 Satz 2 KommRegBefrG).

Nach § 2 Abs. 2 KommRegBefrG sind „Regelungen“ im Sinne des Gesetzes einzelne Vorschriften in Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften des Landes, die für die Aufgabenerfüllung der Gemeinden und Landkreise erlassen wurden. Damit bleibt der Kern der staatlichen Steuerung unangetastet. Die Kommune darf nur dort experimentieren, wo sie die gleiche Zielerreichung mit alternativen Mitteln plausibel darlegen kann.

  1. Das Antragsverfahren nach § 3 KommRegBefrG

Herzstück des Gesetzes ist das in § 3 geregelte Verfahren. Antragsberechtigt sind die kommunalen Exekutivorgane selbst – also der Bürgermeister oder Landrat (bzw. bei Zweckverbänden die Verbandsvorsitzenden). Ein vorheriger Beschluss des Gemeinderats oder Kreistags ist nicht erforderlich, diese Organe müssen jedoch informiert werden (§ 3 Abs. 1 Satz 2 KommRegBefrG). Der Antrag muss präzise formuliert sein: von welchen Vorschriften soll befreit werden, welche alternativen Maßnahmen werden getroffen, wie lange soll die Befreiung gelten? (§ 3 Abs. 1 Satz 4 KommRegBefrG).

Über den Antrag entscheidet die jeweils zuständige Landesbehörde. Besonders hervorzuheben ist die Genehmigungsfiktion: Erfolgt binnen drei Monaten nach vollständiger Antragstellung keine Entscheidung dess jeweils fachlich zuständigen Ministeriums, gilt die Genehmigung als erteilt (§ 3 Abs. 2 Satz 3 KommRegBefrG). Der Landesgesetzgeber will damit verhindern, dass innovative Vorhaben durch behördliches Zögern ausgebremst werden.

Eine Ablehnung des Antrags ist nach § 3 Abs. 2 Satz 2 KommRegBefrG nur zulässig, wenn:

  • Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Aufgabenerfüllung durch die Gemeinde oder den Landkreis nicht gewährleistet werden kann (lit. a),
  • eine Gefahr für Leib und Leben von Menschen entstehen würde (lit. b), oder
  • überwiegende Belange des Gemeinwohls entgegenstehen (lit. c).

Hinzu kommen die bereits in § 2 Abs. 1 Satz 2 KommRegBefrG genannten materiellen Ausschlussgründe: Bundesrecht, Recht der Europäischen Gemeinschaften oder Rechte Dritter dürfen nicht entgegenstehen. Damit steht die Genehmigung nicht im Ermessen des jeweils fachlich zuständigen Ministeriums, sondern ist bei Vorliegen der Voraussetzungen und in Ermangelung von Ausschlussgründen zu erteilen.

Vor einer endgültigen Ablehnung soll zudem ein Verständigungsverfahren mit den beteiligten Ministerien durchgeführt werden (§ 3 Abs. 3 KommRegBefrG), um einvernehmliche Lösungen doch zu ermöglichen. Hierdurch wird den Gemeinden vor einer Ablehnung nochmals die Chance eröffnet, ihre Abweichung mit Unterstützung der Fachministerien ggf. anzupassen und einen Konsens über die Abweichung herbeizuführen. Genehmigungen sind stets zu befristen – auf höchstens vier Jahre – und müssen öffentlich bekannt gemacht werden (§ 3 Abs. 4 KommRegBefrG). Der Gemeinderat oder Kreistag entscheidet anschließend, ob und wie die Befreiung tatsächlich umgesetzt wird (§ 3 Abs. 5 KommRegBefrG).

Zusätzlich erlaubt § 4 KommRegBefrG, dass auch die kommunalen Landesverbände – etwa der Gemeindetag, Städtetag oder Landkreistag – stellvertretend Anträge stellen können. Auf diese Weise können mehrere Kommunen gemeinsam Modellprojekte initiieren und landesweit Erfahrungen sammeln.

  1. Monitoring und Evaluation

Der experimentelle Charakter des Gesetzes wird durch § 5 und § 6 KommRegBefrG unterstrichen. Nach § 5 Abs. 1 KommRegBefrG sind die Ministerien verpflichtet zu prüfen, ob erfolgreiche Erprobungen auf andere Kommunen übertragen werden können. Die Landesregierung muss dem Landtag regelmäßig Bericht erstatten – zum 31. Dezember 2025, zum 31. Dezember 2028 sowie zum 30. Juni 2030 (§ 5 Abs. 2 KommRegBefrG). Damit hat der Landesgesetzgeber ein Monitoring geschaffen, das auch Korrekturen oder ein Einschreiten des Landesgesetzgebers bei unerwünschten Entwicklungen ermöglicht.

  1. Gesetzgeberische zielt auf Entlastung, Flexibilität und Praxisnähe

Die Gesetzesbegründung hebt besonders die Chance auf den Abbau von Bürokratie hervor, sowie die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Zahlreiche landesrechtliche Vorgaben seien in der Praxis zu detailliert oder zu starr, um auf lokale Besonderheiten angemessen reagieren zu können. Zugleich will der Gesetzgeber die „Erprobungskultur“ in der Verwaltung fördern und den Kommunen die Chance geben, neue Wege zu testen, ohne gleich bestehendes Recht zu verletzen. Damit wird auch ein Versuch unternommen, die Funktionsfähigkeit der kommunalen Verwaltung zu sichern, die in den vergangenen Jahren bei gleichbleibender personeller Ausstattung und teilweise schwieriger finanzieller Situation immer mehr und immer komplexere Aufgaben zu bewältigen hatte. Die Kommunen erhalten durch das Gesetz mehr Freiheit, wobei durch die Einbindung der Fachministerien die Rechtssichere Umsetzung gewährleistet werden soll.

  1. Praxisrelevanz und Bewertung

Das Kommunale Regelungsbefreiungsgesetz bietet Kommunen in Baden-Württemberg erstmals die Möglichkeit, landesrechtliche Verfahrensvorgaben rechtssicher zu umgehen, wenn sie alternative Wege zur Zielerreichung aufzeigen können. Der größte praktische Zugewinn liegt voraussichtlich in den Bereichen Verfahrensbeschleunigung, Ressourcenschonung und innovative Problemlösungen vor Ort.

Beispiel Baurecht

Nach § 37 Landesbauordnung Baden-Württemberg (LBO BW) sind für jede Wohnung Stellplätze oder Garagen herzustellen. Die Verwaltungsvorschrift zu § 37 LBO BW konkretisiert diese Pflicht je nach Lage, Nutzung und Bauart. Im dicht bebauten Gemeindegebiet fehlen jedoch geeignete Flächen und Tiefgaragen wären unverhältnismäßig teuer. Die Stellplatzpflicht verhindert faktisch die Realisierung kleiner Bauprojekte und führt zu hohen Baukosten, obwohl der ÖPNV-Anschluss hervorragend ist und die Gemeinde ein nachhaltiges Mobilitätskonzept verfolgt.

Hier könnte die Gemeinde abweichend von § 37 LBO BW eine reduzierte Stellplatzverpflichtung erproben. Statt eines Stellplatzes pro Wohnung werden z.B. nur 0,3 Stellplätze pro Wohneinheit verlangt, kombiniert mit einem verpflichtenden Car-Sharing-Angebot und einem Mobilitätsgutschein für Mieterinnen und Mieter.

Beispiel Energie- und Klimaschutzberatung

Mehrere Gemeinden wollen gemeinsam eine regionale Energie- und Klimaschutzstelle mit Beratungsangeboten aufbauen. Derzeit sieht die Gemeindeordnung Baden-Württemberg (GemO BW) in § 2 Abs. 1 und § 25 ff. GemO BW vor, dass jede Gemeinde ihre Aufgaben in eigener Zuständigkeit wahrnimmt. Interkommunale Zusammenarbeit ist zwar möglich (§ 25 ff. GemO, Zweckverbände, Verwaltungsvereinbarungen), aber aufwendig und rechtlich starr – insbesondere, wenn Personal und Finanzen flexibel geteilt werden sollen.

Hier können die Gemeinden können abweichend von den Zuständigkeits- und Organisationsvorschriften der Gemeindeordnung Baden-Württemberg (§§ 2, 25 ff. GemO BW), die Erprobung der regionalen Energie- und Klimaschutzstelle beantragen. Diese gemeinsame Einheit arbeitet mit gemeinsamem Budget, gemeinsamer Leitung und fachlicher Zuständigkeit für alle beteiligten Gemeinden – ohne formale Zweckverbandsgründung. Die Befreiung von den starren Zuständigkeitsregeln ermöglicht sowohl professionellere Lösungen und begegnet gleichzeitig dem Fachkräftemangel, da nicht jede Gemeinde eine eigene Fachkraft benötigt.

  1. Fazit

Mit dem Kommunalen Regelungsbefreiungsgesetz geht Baden-Württemberg einen mutigen Schritt hin zu einer flexibleren und lernenden Verwaltung. Das Gesetz verbindet rechtliche Kontrolle mit gezielter Innovationsfreiheit und eröffnet Kommunen erstmals einen strukturierten Raum für Erprobung und institutionelles Lernen.

Ob sich dieses Modell bewährt, hängt maßgeblich davon ab, wie entschlossen die Kommunen die neuen Möglichkeiten nutzen und wie offen die Landesministerien die Anträge begleiten. Gelingt der Transfer von Experiment zu Dauerrecht, könnte das Gesetz ein wichtiger Impuls für die Modernisierung und Entbürokratisierung der Verwaltungskultur werden.

Kurzfristig wird es jedoch einen hohen Beratungs- und Unterstützungsbedarf geben, um rechtssichere und strategisch sinnvolle Anträge zu entwickeln. Entscheidend wird sein, dass Kommunen bereit sind, Erprobung auch als Lernprozess zu verstehen – inklusive des Rechts, einmal zu scheitern.

Als Kanzlei für Verwaltungsrecht stehen wir Ihrer Kommune mit unserer Expertise zur Verfügung und unterstützen Sie dabei, neue Ideen in tragfähige Verwaltungsstrukturen zu überführen.

Würzburg, 31.Oktober 2025

gez. Dr. Eric Weiser-Saulin/ Rechtsanwalt