Der Bundestag hat heute das „Genehmigungsbeschleunigungsgesetz“ aus der Feder des Verkehrsministeriums beschlossen. Damit soll eine Verfahrensbeschleunigung bei der Zulassung von Vorhaben dadurch erreicht werden, dass bestimmten Projekten die Eigenschaft zugeschrieben wird, im „überragenden öffentlichen Interesse“ zu stehen. Deshalb lohnt ein näherer Blick auf diesen durchaus schillernden Begriff.
In der Rechtsprechung finden sich zahlreiche Einzelfallbeispiele für „überragende öffentliche Interessen“, und zwar im Sinne einer Kennzeichnung eines konkreten öffentlichen Interesses als „überwiegend“ und „dringlich“ im konkreten Einzelfall. Allerdings wurde seitens des Gesetzgebers diese Begrifflichkeit bisher nur vereinzelt, aber nicht in systematischer Weise verwendet. Damit erhebt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber eine solche Interessengewichtung vorgeben kann.
„Überragende öffentliche Interessen“ nicht willkürlich festlegen
Das Willkürverbot, das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes folgt, verlangt, dass die Zuerkennung eines überragenden öffentlichen Interesses durch den Gesetzgeber nicht willkürlich erfolgen darf, sondern die objektive und verfassungsrechtliche Gewichtigkeit der einzelnen Belange im Blick behalten muss. Das Grundgesetz zieht damit dem Gesetzgeber deutliche Grenzen bei dem Bestreben, generelle politische Ziele, die den hohen Verfassungsrang, etwa des Klimaschutzes und der Energieversorgungssicherheit, nicht teilen, mit einem „überragenden öffentlichen Interesse“ zu adeln.
Bis zur Vorlage des Genehmigungsbeschleunigungsgesetzes, das unter anderem eine Vielzahl von Straßenbauvorhaben mit einem „überragenden öffentlichen Interesse“ ausstatten soll, ließ der Gesetzgeber bei der Zuerkennung eines solchen Ranges wohlüberlegte Zurückhaltung walten und beschränkte sich auf solche Projekte, die unmittelbar entweder dem Klimaschutz (EEG), der Energieversorgungssicherheit (EEG, EnLaG und BBPlG) oder der Gewährleistung einer funktionierenden Gesundheitsversorgung (InfektionsschutzG) dienen. Diese Interessen markieren ausnahmslos Belange von erheblichem verfassungsrechtlichem Gewicht, Art. 20 a GG (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen), Art 1 (Menschenwürde) und Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG (leben und körperliche Unversehrtheit).
Gemeinsam ist den bisher als „überragend“ gekennzeichneten Interessen, dass sie der Bewältigung existentieller Krisen dienen, die ihrerseits geeignet sind, die verfassungsmäßige Ordnung selbst zu gefährden. Gemeinsam ist den „überragenden“ öffentlichen Interessen auch, dass sie aufgrund verfassungsrechtlicher Aufladung auch nach Maßgabe des Grundgesetzes einen besonders hohen Rang innehaben. Der Gesetzgeber kann deshalb nicht alle öffentlichen Interessen wahllos als „überragend“ kennzeichnen, weil damit die Wirkung des relativen Vorrangs beseitigt wird und das eigentlich überragende öffentliche Interesse ins Leere läuft. Denn wenn alle Interessen in der Abwägung als „überragend“ angesehen werden, stehen immer überragende Interessen gegen überragende Interessen und der relative Gewichtungsvorrang geht verloren.
Soll die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung erhalten bleiben, kann deshalb die Förderung der Genehmigungsverfahren von objektiv anerkannt klimaschädlichen Projekten oder Infrastrukturen denklogisch und auch verfassungsrechtlich nicht im „überragenden öffentlichen Interesse“ stehen. Bestenfalls kann hierfür ein allgemeines, aber kein überragendes öffentliches Interesse bestehen. So mag etwa, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, ein öffentliches Interesse an Straßenbauvorhaben oder dem Ausbau von Flughäfen bestehen, ein „überragendes“ Interesse mit dem Ziel der unbedingten Beschleunigung der Realisierung gerade dieser Infrastrukturen ist allerdings bereits bei objektiver Betrachtung nicht zu rechtfertigen, da der weitere Ausbau dieser Infrastrukturen jedenfalls nicht der Lösung existentieller und Verfassungsordnungs-bedrohender Krisen dient und für die akut zu bewältigenden Krisen auch ersichtlich nicht erforderlich ist.
Dabei gehört es zur Wahrheit, dass nicht alles gleichzeitig beschleunigt werden kann, sondern aus Klimaschutz- und Flächenschutzgründen auch nicht alles beschleunigt werden darf. Vorhaben, die dem Erreichen der Klimaziele dienen, müssen schon aufgrund der verfassungsrechtlichen Aufladung der Klimaziele, ein „prä“ haben, wenn sichergestellt werden soll, dass die bisherigen Beschleunigungsinitiativen im Osterpaket und im Sommerpaket 2022 tatsächlich funktionieren. Dies ist nur dann realistisch, wenn eine sinnvolle Auswahl getroffen wird, welche Vorhaben beschleunigt umgesetzt werden sollen. Ein „Freilassen“ aller Interessen, sei es Infrastruktur oder Industrievorhaben, ist aus Naturschutz- und Klimaschutzgründen bereits deshalb nicht möglich, weil die Möglichkeiten, die entsprechenden Auswirkungen auf Klima, Natur und Umwelt zu kompensieren, schlicht nicht mehr vorhanden sind.
Priorisierung von Vorhaben – aber sinnvoll!
Als weiteres Korrektiv für die Beurteilung, ob bestimmte Vorhaben oder Maßnahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge (nur) im öffentlichen Interesse stehen oder sogar ein überragendes öffentliches Interesse für sich in Anspruch nehmen können, kann neben der Vereinbarkeit mit den oder der Förderlichkeit für die Klimaziele(n) auch der bisherige Erfüllungsgrad herangezogen werden. So kann mit Blick auf den Erfüllungsgrad der Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge gefragt werden, ob der Ausbau einer bestimmten Infrastruktur oder Technik bereits so weit vorangeschritten ist, dass die Aufgabe der Daseinsvorsorge befriedigend erfüllt wird. Als Anknüpfungspunkt zur Differenzierung eines (nur) hohen öffentlichen und eines überragenden öffentlichen Interesses können dann zeitliche Prioritäten entwickelt werden.
Bezogen etwa auf Straßenbau kann dabei konstatiert werden, dass trotz stellenweise maroder Brücken und oft jahrelang dauernder Planungsverfahren die Aufgabe der Daseinsvorsorge zur Versorgung der Bevölkerung mit befahrbaren Straßen in einem Maße bereits erfüllt ist, das die rasche Verwirklichung weiterer solcher Vorhaben in zeitlicher Hinsicht nicht drängender erscheinen lässt als den Ausbau erneuerbarer Energien oder des ÖPNV. Vielmehr können nur solche Vorhaben und Maßnahmen auf eine Stufe im Hinblick auf eine in Richtung Beschleunigung abzielende Vorrangwirkung mit den EE-Anlagen gestellt werden, die ebenfalls für sich in Anspruch nehmen können, zeitlich prioritär zur Lösung existentieller Krisen verwirklicht werden zu müssen.
Keine Vorteile, aber Gefahr für den Vorrang der EE-Projekte
Die Verteilung des Status eines „überragenden öffentlichen Interesses“ gleichsam mit der Gießkanne gefährdet letztlich den erst kürzlich durch den Gesetzgeber eingeführten Vorrang für EE-Projekte. Die Zuerkennung eines „überragenden öffentlichen Interesses“ für EE-Projekte hatte handfeste Gründe. Denn aufgrund einzelner Entscheidungen der Gerichte speziell zu Windkraftanlagen war in der Praxis Rechtsunsicherheit bei der Frage entstanden, ob etwa ein einzelnes Windrad im öffentlichen Interesse steht und sich beispielsweise bei Konflikten mit geschützten Arten gegen den Artenschutz durchsetzen kann.
Um diese Unsicherheit zu beseitigen und zugleich die aus Klimaschutzgründen erforderliche Dekarbonisierung der Energieversorgung voranzutreiben, wurde das „überragende öffentliche Interesse“ für solche Anlagen eingeführt. Mit einer solchen Unsicherheit nie konfrontiert waren die Vorhaben der Infrastrukturplanung. Deshalb ist es auch für die Geschwindigkeit ihrer Planung und Realisierung vollkommen einerlei, ob diese Vorhaben im überragenden öffentlichen Interesse oder nur in einem hohen öffentlichen Interesse stehen.
Wie Sangenstedt/Balla (ZUR 2023, 387, beck-online, dort Fn. 43) zutreffend angemerkt haben, dient es nicht der Beschleunigung, wenn sich verschiedene „überragende Belange“ in der Planungslandschaft tummeln und in Konflikt miteinander geraten. Dies provoziert nur die Notwendigkeit, dann zwischen den kollidierenden Belangen eine Rangfolge festzulegen und zu bestimmen, welches der konkurrierenden Interessen im konkreten Fall „superüberragend“ ist.
Die Beschleunigung von Verfahren wird damit nicht gelingen, indem neue Superlative erfunden werden, sondern nur über wohlüberlegte und sinnvolle Priorisierungen von Vorhaben, eine rasche Verbesserung der Umweltdatenlage, um die notwendigen und wichtigen Umweltprüfungen rascher durchführen zu können, sowie eine verbesserte digitale, technische und personelle Ausstattung der Behörden. Denn genau hier liegen die eigentlichen Gründe für die langen Verfahrensdauern. Sie sind seit Jahren bekannt und werden durch den Gesetzgeber konsequent ignoriert.
Leipzig, 20.10.2023
gez. Dr. Franziska Heß
Fachanwältin für Verwaltungsrecht