Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat durch ein Urteil in einem französischen Vorlageverfahren die Anforderungen bei der Prüfung der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL, Richtlinie 20000/60/EG) weiter verschärft, mit weitreichenden Folgen auch für die deutsche Praxis. Der EuGH folgt damit seiner bisherigen Rechtsprechung und lehnt die Berücksichtigung von Irrelevanz- oder Bagatellschwellen bei der Vereinbarkeitsprüfung ab.

Die Ziele der europäischen WRRL – besser bekannt u.a. als Verschlechterungsverbot und Verbesserungsgebot – sind über zwanzig Jahre nach Erlass der Richtlinie in dem wasserwirtschaftlichen Vollzug und der Genehmigungspraxis nicht mehr wegzudenken. Nachdem lange fraglich war, ob die Ziele auch bei den konkreten Genehmigungen zu beachten sind, sind Vereinbarkeitsprüfungen etwa in Form eines Fachbeitrags zur WRRL zum Standardrepertoire von Genehmigungsplanungen und der behördlichen Überprüfung geworden. Hierfür hatte der EuGH bereits durch seine Rechtsprechung zur Weservertiefung im Jahr 2015 gesorgt und geurteilt, dass die WRRL-Ziele verpflichtend zu prüfende Vorgaben bei der Vorhabengenehmigung sind (EuGH, Urt. v. 1.7.2015 – C-461/13, Rn. 51).

Nunmehr hat der EuGH die Anforderungen an die Vereinbarkeitsprüfung mit den Zielen der WRRL in weiteren Urteilen deutlich verstärkt und angehoben. In dem, ebenfalls auf einem Vorlageverfahren des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zurückgehenden, Fall der Ortsumgehung Ummeln stärkte der EuGH die Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit bei UVP-pflichtigen Vorhaben, wonach die Vereinbarkeitsprüfung oder der Fachbeitrag-WRRL zu den Unterlagen gehört, die im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung auszulegen sind (EuGH, Urt. v. 28.05.2020 – C-535/18, Rn. 90). Daneben können alle Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, die etwa Inhaber von Wasserrechten sind (z.B. Entnahmeerlaubnisse bei Brunnen) sowie anerkannte Umweltverbände, die Verletzung der WRRL-Ziele und Gewässerschutz-Richtlinien gerichtlich rügen und sich darauf berufen (vgl. etwa zur Nitrat-RL, EuGH, 3.10.2019 – C‑197/18, Rn. 46).

Zugleich übertrug der EuGH seine in der Weservertiefung gefundene Auslegung des Verschlechterungsverbots für den ökologischen Zustand (sog. Qualitätskomponentensprung-Theorie) auch auf den chemischen und mengenmäßigen Zustand des Grundwassers. Danach liegt eine Verschlechterung etwa des chemischen Zustands vor, soweit ein Grenzwert (Umweltqualitätsnorm oder Schwellenwert) für einen bewertungsrelevanten Schadstoff durch ein Vorhaben überschritten wird oder bereits überschritten ist und sich die Konzentration des Schadstoffs weiter erhöht (EuGH, Urt. v. 28.05.2020 – C-535/18, Rn. 119). Im Wesentlichen hat der EuGH damit die lange als ungeklärt angesehenen Fragen über die Auslegung des Verschlechterungsverbots für Oberflächengewässer und Grundwasser geklärt und hinreichend festgelegt, welche Kriterien zu prüfen sind.

Doch der EuGH ist in seinen Entscheidungen noch einen Schritt weiter gegangen, der auch für die Praxis in Deutschland von Bedeutung ist. So wurde vom BVerwG bislang angenommen, dass ein Wasserkörper immer in seiner Gesamtheit von einem Vorhaben betroffen sein müsste, um einen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot anzunehmen (BVerwG, Urteil vom 9. Februar 2017 – 7 A 2/15 –, BVerwGE 158, 1-142, Rn. 506). Dem Grunde nach stellte dies eine in den rechtlichen Vorgaben nicht ohne Weiteres erkennbare Bagatell- oder Irrelevanzschwelle dar, wonach bestimmte Auswirkungen eine gewisse Größe oder Ausdehnung erreichen müssten, um als Verschlechterung gewertet zu werden. Lokale oder auch temporäre Auswirkungen sollten damit nicht bewertungsrelevant sein, solange sie nicht den ganzen Wasserkörper betreffen. Angesichts der Größe der in Deutschland zugeschnittenen Wasserkörper – ein Grundwasserkörper kann etwa eine Größe von 1.500 km² aufweisen – war damit die Schwelle des Auslösens des Verschlechterungsverbots hoch angesetzt, die nach Ansicht des EuGH jedoch niedrig sein sollte (EuGH, Urt. v. 1.7.2015 – C-461/13, Rn. 67). Schon in der Ummeln-Entscheidung widersprach der EuGH eher beiläufig der Ansicht des BVerwG, wonach eine Verschlechterung nur vorliege, wenn der gesamte Wasserkörper betroffen sei (EuGH, Urt. v. 28.05.2020 – C-535/18, Rn. 111 ff.). Vielmehr unterfallen dem EuGH nach, auch lokale Veränderungen dem Verschlechterungsverbot. Daraus zog der EuGH die Konsequenz, dass nicht nur die an der repräsentativen Messstelle (meist eine Messtelle für einen Wasserkörper) eines Grundwasserkörpers festgestellten negativen Veränderung einer Schadstoffkonzentration eine Verschlechterung darstellen, sondern die prognostizierte oder gemessene Überschreitung einer Umweltqualitätsnorm an jeder Überwachungsmessstelle.

Der EuGH hat diese Linie jetzt auch in einem neuerlich entschiedenen Fall bestätigt und auf Oberflächenwasserkörper übertragen. Der EuGH hat dabei herausgestellt, dass auch temporäre bzw. vorübergehende Auswirkungen ohne langfristige Folgen dem Verschlechterungsverbot unterfallen (EuGH, Urt. v. 5.5.2022 – C-525/20, Rn. 45). Etwas anderes soll nur gelten, wenn die Auswirkungen ihrem Wesen nach offensichtlich geringfügig sein soll, wobei offen bleibt, was der EuGH darunter versteht. Hierzu wäre kritisch anzumerken, dass der EuGH ohne Begründung offenbar selbst eine Bagatellgrenze statuiert hat. Da der EuGH jedoch selbst Renaturierungsprojekte, die sich langfristig positiv auf den Gewässerzustand auswirken, dem Verschlechterungsverbot unterwerfen will und auf die Ausnahme verweist (EuGH, Urt. v. 5.5.2022 – C-525/20, Rn. 43), dürfte die daraus folgende Bagatellgrenze deutlich niedriger sein, als von den deutschen Gerichten und in der wasserwirtschaftlichen Praxis bisher angenommen. Jedenfalls ergibt sich aus der neueren EuGH-Rechtsprechung Anpassungsbedarf der Leitfäden zur WRRL-Vereinbarkeitsprüfung und Auslegung des Verschlechterungsverbot (etwa die Handlungsempfehlung zum Verschlechterungsverbot der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA), die lokale und temporäre Auswirkungen nicht vom Verschlechterungsverbot umfasst wissen will). Auch Vorhabenträger sollten bei Erstellung des Fachbeitrags-WRRL den gestiegenen Anforderungen der Prüfung hinreichend Rechnung tragen.

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Leipzig, 01.06.2023

gez. Justus Wulff, LL.M. (Master of Laws)